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historikerkongress

(ABB) Neue Analyseinstrumente für die vergleichende Bildforschung:

Von der Druckgraphik des 17. Jh. bis zur Medienkunst

Prof. Dr. habil. Oliver Grau, Lehrstuhl für Bildwissenschaft,

Donau-Universität Krems

(ABBlau) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

vielen Dank für die Einladung als Kunst- und Bildwissenschaftler zu Ihnen zu sprechen. Dies ist keine Selbstverständlichkeit und ich weiß dies zu schätzen. Nachdem mein Lehrstuhl im letzten Jahr gemeinsam mit dem Verband den 16. Fachkongress der österreichischen KunsthistorikerInnen an der DUK durchführen konnte, freue ich mich besonders, dass wir nun die Historiker im Haus haben. Umso mehr bedauere ich es, dass ich heute nicht unmittelbar unter Ihnen sein kann, da bereits eine Einladung für einen Abendvortrag im Kunstmuseum Basel angenommen war, von wo aus ich jetzt spreche. Ich hoffe, ich bin zu verstehen?

(ABB) Im Internetzeitalter findet der jüngste Bilderkrieg zwischen West und Ost nahezu in Echtzeit statt: Mohammed-Videos, die Millionen auf die Strasse bringen, sind neueste Steigerung eines sich zuspitzenden visuellen Schlagabtauschs: Dort Bamiyans gesprengte Buddha Statuen, hier Abu Ghraibs vergewaltigte Folterleiber, dort Videos geköpfter Geiseln, hier Bilder des brennenden Korans, Mohammed-Karikaturen und Internet Videos – Bildern folgen Taten, Opferzahlen steigen…

Niemals zuvor wohl hat sich die Welt der Bilder so rasant verändert wie in den letzten Jahren: Waren Bilder früher Ausnahmeerscheinungen, weitgehend dem Ritual, dem Kult, später der Kunst und dem Museum vorbehalten, sind wir im Zeitalter von (ABB) 3D-Kino, Fernsehen und Internet mittlerweile eng von Bildern umsponnen. Das Bild dringt in neue Segmente: Nicht nur das (ABB) Fernsehen wandelt sich zum tausendkanäligen Zappingfeld, (ABB) Großbildleinwände ziehen in unsere Städte, Infografik durchsetzt die Printmedien, (ABB) Architektur verschmilzt mit Bildern, Handys versenden Videos in Echtzeit, (ABB) YouTube und Facebook sind jetzt die größten Bildarchive der Menschheit.

(ABBlau) Wenngleich der „Iconic Turn“ die Geschichtswissenschaft vergleichsweise spät erreicht hat, so hat dieser doch im Fach mit Gerhard Paul, Jens Jäger und – so verstehe ich ihn – Peter Dusek eloquente Vertreter gefunden. Glücklicherweise scheint die alte Trennung: dort die bildzuständigen Kunsthistoriker, hier die textzuständigen Historiker obsolet. Unsere „Visuelle Realität“ um einen Begriff von Paul aufzugreifen und zuzuspitzen, bestimmt im digitalen Internetzeitalter unsere Zeit vielleicht ebenso sehr, wie, so Paul, Zitat: „die erste Realität aus Lebenslagen und Entscheidungsprozessen, die bislang vorrangiges Interesse der Historiker waren.“ Bilder generieren eine eigene visuelle und virtuelle Realität, sie sind damit Teil des Prozesses von Geschichte selbst. Wir aus der Kunstgeschichte kommenden Bildwissenschaftler berufen uns sowohl auf Warburgs kulturgeschichtlich orientierten, interdisziplinären und genreübergreifenden Ansatz, als auch auf Panofskys „Neue Ikonologie“ und Arnheims Bildforschung. Bildwissenschaft versteht sich nicht zuletzt als Erforschung des ästhetischen Sehens von Bildern in allen relevanten Gebieten. Dazu gehören selbstverständlich die Geschichte der Bildtechniken, sowie die Wissenschaftsgeschichte künstlerischer Visualisierung (Kemp 1990), beziehungsweise eine Kunst- und Bildgeschichte der Wissenschaft, für die nicht zuletzt Namen wie Latour, Rheinberger stehen.

Visuelle Medien beeinflussen – ganz allgemein – Formen der Raum-, Gegenstands- und Zeitwahrnehmung, und sie sind auf das engste mit der Sinnengeschichte der Menschheit verbunden. Denn wie die Menschen sehen und was sie sehen, ist alles andere als selbstverständliche Physiologie, vielmehr handelt es sich um komplexe Kulturprozesse, die vielfältigen gesellschaftlichen und medientechnischen Innovationen unterliegen. Diese historischen Prozesse, die sich in unterschiedlichen Kulturen spezifisch ausgeprägt haben, lassen sich anhand von Spuren und Überlieferungen visuellen Mediengebrauchs, beispielsweise in der Visualisierungsliteratur aus Medizin und Optik, schrittweise entschlüsseln. Nicht zuletzt lässt sich auf diese Weise auch die Entstehung neuer Medien untersuchen, deren erste utopische Verdichtung häufig in Kunstwerken stattfindet, eine Bildgeschichte, die von den Medienwissenschaften allein nicht rekonstruiert werden kann.

(ABB) Mit der interaktiven Medienkunst und dem Gamesektor erleben wir heute den Aufstieg des Bildes zum computergenerierten virtuellen Raumbild, das sich “scheinbar” autonom zu wandeln und eine lebensecht, visuell-sensorische Sphäre zu formulieren vermag. Interaktive Medien verändern unsere Vorstellung vom Bild zu einem multisensorischen, interaktiven Erfahrungsraum im zeitlichen Ablauf.

Eine zentrale Rolle bei der Erforschung von digitaler Kultur bilden Bild- und Videodokumentationen, die auch die Hard- und Softwarekonfigurationen sowie die unzähligen Interfaceinnovationen und Displayschöpfungen der Künstler dokumentieren. (ABB): Bildwissenschaftliches Arbeitsinstrument ist die online erreichbare DATENBANK FÜR VIRTUELLE KUNST, heute an der DUK von uns vor 10 Jahren als erstes Projekt seiner Art an der Humboldt-Universiät entwickelt: (ABB) Von annähernd 5000 nach quantitativen und qualitativen Kriterien evaluierten Künstlern wurden etwa 500 aufgenommen, so dass sich ein weitgehend repräsentativer Überblick zur Medienkunst ergibt, (ABB) dem eine erweiterte Systematik und ein neu entwickeltes Datenmodell zu Grunde liegt – Interface (ABB) und Displays (ABB) – kurzum, die Andersartigkeit der Medienkunst ist ein zentrales Dokumentationsziel. (ABB) Zugleich haben wir die Art und Weise wie archiviert wird, den Erfordernissen der Medienkunst entsprechend erneuert: So sind neben den Künstlern, 280 Wissenschaftler an der kollektiven Online-Erschließung beteiligt. So wandelt sich ehemals interne Archivierung zu aktivem Informationstransfer: Stichwort Web 2.0.

Natürlich wissen Sie, dass die Bildwissenschaften aufgrund des diachronen Charakters von Bildern mit historischen Vergleichen, Reihungen arbeiten. Wir profitieren an der Donau-Universität mithin von einer vergleichslosen Situation, das wir sowohl die umfassendste Bilddatenbank der zeitgenössischen Medienkunst (www.virtualart.at) entwickeln, als auch Österreichs größte Privatsammlung der Druckgraphik (ABB) – von Dürer bis Klimt – digital erschließen. Mithin steht die Möglichkeit im Raum, sowohl das Nachleben kunsthistorischer, in der Druckgraphik auffindbarer Themen in der Gegenwartskunst zu untersuchen, als auch umgekehrt, partiell die Vorläufer und Ursprungslinien der Medienkunst. Die Göttweiger Sammlung ist durch die exzessive Sammlungspolitik von Gottfried Bessel, 1714-49 Göttweiger Abt und teilweise zeitgleich Rektor der Uni Wien, in besonderer Weise als bildgeschichtliches Archiv geeignet. In nur 10 Jahren ließ Bessel durch seine Agenten in ganz Europa die unvorstellbare Menge von 20.000 Blatt auch zu Themen, wie Technik, Wissenschaft, Politik, Völkerkunde usw. ankaufen – aus der Überzeugung, dass seine Mönche nicht nur das übliche literarische sondern auch visuelles Wissen erwerben sollten – wenn Sie so wollen, war Bessel auch ein früher Förderer der Bildwissenschaft…

(ABB) Das Zentrum für Bildwissenschaften sehen sie an einem wahrhaft auratischen Ort untergebracht, neben dem Digitalisierungscenter nutzen wir eine Spezialbibliothek zur Ikonographie, die wir in den letzten Jahren um die bildwissenschaftliche Forschungsliteratur erweitert haben. (ABB) Zur Digitalisierung der Graphischen Sammlung könnte die Erfassung der Handschriftensammlung der Bibliothek treten: (ABB) Und so reicht der Bogen visueller Kultur am Zentrum vom Psalter aus dem 9. Jahrhundert über verschiedene Kunst- und Bildmedien bis hin zur Medienkunst, teilweise können wir am Original forschen und vermitteln – technisch wie kulturwissenschaftlich.

Zur Graphik: Sie kennen dies: Empfindliche Graphiken werden selten und wenn dann in abgedunkelten Räumen gezeigt, kaum kann ihr Detailreichtum von den Besuchern erfasst werden. Unsere mit dem Österreichischen Netz für Langzeiterhaltung abgestimmte digitale Erschließung der Graphischen Sammlung – kürzlich konnten wir Ergebnisse gemeinsam mit British Museum, Reichsmuseum & Kupferstichkabinett Berlin in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel vorstellen – folgt vier Zielen (ABB):

a.)    Neue Erkenntnis- und Vermittlungsstrategien durch hochauflösende Digitalisierung.

b.)    Unser Konzept der „Virtuellen Ausstellung“ (www.gssg.at)

c.)    Großprojektionen, „filmische Augen- und Zeitreisen durch historische Druckwerke“ sowie

d.)    die Vernetzung mit Archiven zeitgenössischer Kunst im Rahmen bildwissenschaftlicher Forschung.

A. (ABB) DAS WISSENSCHAFTLICHE, vom „Original“ kaum unterscheidbare FAKSIMILE. Neben den durch uns entwickelten Open Source Datenbanken ist das Herzstück der technischen Ausstattung unseres Digitalisierungscenters, eine Linhof-Profikamera, die mit einem Anagramm-Scanback von 78 Millionen Pixeln Auflösung verbunden ist. Die Farbtiefe beträgt pro Kanal 16 Bit, der Datendurchsatz pro Minute 750 Mio. Pixel = (ABB) Hier die Hand einer Kollegin deren präzise Vergrößerung vielleicht schon ein wenig unhöflich wirkt…

B. DIE VIRTUELLE AUSSTELLUNG: (ABB) Die Online-Datenbank der Graphischen Sammlung Göttweig richtet sich natürlich einerseits an die Wissenschaft, die sich über ein (ABB) System kombinierbarer Suchfunktionen in den Bestand vertiefen und den Peers ihre Suchergebnisse weiterleiten kann – andererseits zielt das seit 2006 bestehende Konzept der Virtuellen Ausstellung auf eine breite Öffentlichkeit, die sich nunmehr komplette Themenausstellungen nach Hause holen kann, wie etwa (ABB) „Venezianische Veduten“, die (ABB) große Marienausstellung „Unter Deinen Schutz“, „Theorie der Architektur“ oder die (ABB) „Barocke Bilder Eytelkeit“. Ergänzt werden die verschiedenen Bildformate um Erschließungsdaten zum Forschungsstand, Beschreibungen, Literatur und die üblichen Metadaten – So erhalten auch Laien Zugang zu unserem bislang so abgekapselten Bildmedium.

 

Kürzlich eröffneten wir die Ausstellung „Das barocke Thesenblatt“– es sollte wohl eher heißen: wir schalteten frei: (ABB) Thesenblätter, Sie wissen es, haben in Bibliotheken und Archiven lange ein Schattendasein geführt. Seit einiger Zeit lässt sich jedoch neues Interesse an diesen prachtvollen Blättern feststellen, mit denen Disputationen öffentlich angekündigt wurden. Die Ausstellung umfasst drei Abschnitte mit insgesamt 56 Thesenblättern, Frontispize von Thesenbroschüren und verwandten Gattungen und analysiert die Stiche nicht nur als faszinierende Beispiele barocker Wort-Bild-Hybride, sondern zugleich als Quellen der Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte – Wir hoffen, mit dieser Online-Ausstellung dem Phänomen „Thesenblatt“ neue Resonanz zu verschaffen und vielleicht sollten wir unsere Promovierenden nahelegen, ihre Ideen wieder zu visualisieren…

(ABBlau) Ein Kernproblem aktueller Kulturpolitik ist die verbreitete Unkenntnis der Ursprünge der audiovisuellen Medien. Diese steht im diametralen Gegensatz zu gebetsmühlenhaft vorgetragenen Forderungen nach Ausbildung von Bild- und Medienkompetenz; und dies ist besonders zu bedauern angesichts der aktuellen Medienumbrüche, die kaum absehbare gesellschaftliche Folgen zeitigen. Im Unterschied zu bildender Kunst, Theater und Musik bieten unsere Kulturinstitutionen kaum Erfahrungsmöglichkeiten der visuellen Medien früherer Zeiten. Ohne das Erlebnis historischer Bildmedien jedoch ist ein grundlegendes Verständnis der Medien unserer Gegenwart ebenso wenig möglich, wie es möglich wäre, die Gemälde eines Leonardo oder Monet nur durch Postkarten zu erfahren.

  1. Dritte Anwendung der Digitalisierungsforschung ist die kinosaalgroße PROJEKTION: (AUGENSPIEL) Es wird nunmehr möglich, Besucher gewissermaßen in den Bildraum hineinzuversetzen, Details mit den Augen zu erkennen, welche bislang auch die Forschung außer Acht lies:

(BILD) Ausgangspunkt der folgenden Vergleichsminiatur zum Nachleben barocker Bildlichkeit in der Gegenwartskunst ist das Ihren bekannte visuelle Manifest des Wissens, Die Academie des Sciences et des Beaux-Arts, wie es der Inventor Sebastien Le Clerc 1698 schuf. Stark verkürzt kann es als Summe der Mathematisierung der Natur verstanden werden, ganz wie Descartes und Newton dies propagierten.

In einer großartigen Architekturkulisse präsentiert sich, in der Tiefe gestaffelt, das Fächerspektrum der Künste und Wissenschaften: Mathematik, Mechanik, Astronomie, Musik und Philosophie sind deutlich gekennzeichnet. Viel ist über dieses Werk geschrieben worden, ich werde die von der Forschung bislang nicht beachteten visuellen Medien aufgreifen, die heute, wo es darum geht, die Revolution um das Bild und unsere Wahrnehmung distanzierbar und begreifbar zu machen, interessanterweise von Medienkünstlern aufgegriffen werden.

(ABB) Zoomen wir hinein, erkennen wir, dass LeClerc wie in einem Brennspiegel die optischen Medien seiner Zeit versammelt, (ABB) die physiologischen Grundlagen des räumlichen Sehens sind ebenso erfasst, wie das Prinzip der (ABB) Zentralperspektive, welche mit dieser Zeichenhilfe, dem auch von Dürer verwendeten Velum angedeutet ist. Mit einer (ABB) Laterna Magica stoßen wir auf “die” Projektionstechnik der Neuzeit, Vorläufer der Kinematografie und – wenn Sie so wollen – des Datenbeamers, der unser Bild besorgt.

Seit Beginn des neunen Jahrtausends feiert bemerkenswerterweise die extremste Ausprägung der Laterna Magica, die Phantasmagorie, Wiederkehr (ABB): Neben vielen Beispielen wären etwa die medienarchäologischen Arbeiten von Rosangela Renno Experiencia do Cinema, Toni Ourslers Projektionen (ABB) für den Soho Square oder (ABB) Jeffrey Shaws phantasmagorische Installation Unmakeable Love zu nennen.

Zurück zu LeClerc (ABB): Auch die Anamorphose schließlich, von Lacan als “Umkehrung der Zentralperspektive“ gekennzeichnet, gelangt bemerkenswerterweise in die Medienkunst: (ABB) 2007 verwendet William Kentridge die Anamorphose im Kurzfilm What will come (Has already come). Ganz wie seine historischen Vorgänger verschafft uns Kentridge erst durch einen Metallzylinder Klarheit über seine verzerrten Zeichnungen jenes Kolonialkrieges, den Italien 1935 nach Äthiopien trug.

Die Beispiele lassen sich scheinbar beliebig fortsetzen: (ABB) Olafur Eliasson befasst sich hier in der Wachau mit einer begehbaren Camera Obscura, (ABB) Lynn Hershman erneuert im Diskurs um den „männlichen Blick“ das Modell des Guckkastens, (ABB) Naoko Tosa importiert die Tradition japanischer Sensui Malerei in den digitalen Bildraum, Rafael Lozano-Hemmer greift van Hoogstratens 1675 publizierte „Schattentänzer“ für seine interaktiven Bildszenarien auf, nicht zuletzt (ABB) feiern die 360° Panoramen in der Medienkunst Wiederkehr:

Bilder, wir hörten es, sind mehr als bloße Repräsentanten der Geschichte oder ausschließlich künstlerisch inspirierte Illustrationen, sie helfen vielmehr – und dies nicht zuletzt durch ihr Suggestionspotential – Geschichte zu erzeugen: Denken Sie an das notorische Beispiel Wochenschaupropaganda, suggestive Massenbilder von NS Parteitagen oder die Massenchoreographien in China, der Sowjetunion oder dem heutigen Nord Korea. Besonders einschlägig scheint die bildliche Wirkung auch am Konzept der Immersion nachvollziehbar. (ABB) Interessanterweise ersteht mit Installationen wie World Skin, oben links von Maurice Benayoun und Bildräumen von Luc Couchesne, Jeffrey Shaw oder Michael Naimark für einen gewissen Zeitraum zumindest die Bildform Panorama. (ABB) Installationen, welche Idee und Ästhetik jenes medialen Dinosauriers aufgreifen, und sich in die erst jüngst erkannte Geschichte der Immersion einfügen, die sich durch nahezu die gesamte westliche Kunst- und Mediengeschichte verfolgen lässt. (ABB: Panorama) Bewusst oder unbewusst berufen sich diese Künstler auf einen Kunst- und mediengeschichtlichen Ahn: das 1787 patentierte Panorama. Das Panorama avancierte im 19. Jahrhundert zum Indikator der bildmedialen Verbindung von Kunst, Wissenschaft, Ökonomie und Technik und zu einem der verbreitetsten Bildmedien der Kunst- und Mediengeschichte mit mehreren Hundert Millionen Besuchern. (ABB) Illusionismus und Suggestion wurden an wohl keinem anderen, mit traditionellen Mitteln erzeugten Bildraum weiter entwickelt: 1883 etwa repräsentierte das Sedanpanorama in Berlin die Summe des illusionstechnischen Könnens und wahrnehmungs-physiologischen Wissens seiner Zeit, wie dies von Hermann von Helmholtz formuliert worden war (Optisches über Malerei, 1871).[1] Für uns Heutige, deren mediengeschultes Bildersehen immer höherer Beschleunigung folgt, ist die Wirkung stehender Panoramabilder auf damalige Augen kaum nachvollziehbar. (ABB) In den ersten Momenten erschien die leuchtende Szenerie jedoch so vehement, dass viele Zeugen betonten, sie fühlten sich in einer realen Schlacht. Die Neue Preußische Zeitung etwa schrieb: “Zunächst ist der Besucher wie festgebannt…. Man fürchtet, unter die Pferde zu kommen und fühlt das Bedürfnis, sich rückwärts zu concentrieren. Die Luft erscheint wie von aufwirbelndem Staube und Dampf erfüllt. Trompeten schmettern, Trommelwirbel, Paukenschläge….”[2]

(ABBlau) Diese radikal verkürzten Beispiele können die Bezüge zwischen den Datenbanken nur andeuten, andere Bildmedien das ganze Set der etwa in der kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg spezifizierten Themen, die in unseren Thesaurus eingeflossen sind, lassen reiche Kontinuitätslinien, aber eben auch die Brüche, klar zu Tage treten. Heute wissen Künstler, dass wir die Komplexität der Bildwelten unserer Gegenwart und ihre verborgenen Tiefenschichten erst erfassen, wenn es gelingt, diese in den Bildschatz der Kulturgeschichte zu integrieren – klarer sehen wir dann auch was wirklich neu ist. Künftig erhoffen wir durch die Kombination der Datenbanken, die Vergleiche im großen Maßstab ermöglichen, noch nicht erschlossene tiefere historische Referenzen und Kontexte festzustellen, ja die neuen Bildwelten kritisierbar zu machen und zugleich einen Beitrag zur Langzeiterhaltung von Medienkunst und zur Erschließung historischer Bildmedien zu leisten.

Vor der Folie der Bildrevolution versuchen Künstler heute die Wirkungsspektren der Bilder und die permanente Transformation unseres Sehens auszumessen, immer aufs Neue, um die Konstitution der Blicke zu charakterisieren und die miteinander verschränkten Größen von Fiktion und dem was wir Realität nennen, zwischen Illusion und dem was wir vielleicht als “reines Sehen”, das aufgeklart und medienkompetent agiert und allenfalls als abstraktes Ziel existieren zu umreißen. Künstler erforschen, wie unsere Blicke fokussiert und konzentriert oder aber zerstreut, ja zerlegt werden, sie analysieren, wie wir gebannt und vielleicht gefangen werden ebenso, wie wir uns aus der Umklammerung emanzipieren können.

Wir können zwischen historischen und aktuellsten Kunstwelten Parallelen entdecken, ja es lässt sich erweisen, dass Teile der Medienkunst ohne Kenntnis der Kunst- und Kulturgeschichte kaum zu verstehen ist – zudem gelingt es, durch die Methode der Vergleichs kategoriale Unterschiede von Medienkunst zu tradierter Kunst zu erfassen, um eine neue, angemessene kulturelle Infrastruktur für ihre Erhaltung zu entwickeln. In der Summe arbeiten wir an einem Modell, welches die Medienkunst der Gegenwart besser in unsere Kunstsysteme integriert und andererseits das weite kunsthistorische Gebiet der Druckgraphik in neuer Weise vernetzt, erforscht und vermittelt und wir hoffen, die entstehenden Forschungen in der internationalen Zirkulation noch stärker fruchtbar zu machen. 

 

(ABB) Zugleich versuchen wir mit unseren neu entwickelten bildwissenschaftlichen Studienprogrammen, wie Digitales Sammlungsmanagement, Medienkunstgeschichte, Visuelle Kompetenzen oder Ausstellungsdesign, Lücken zu schließen, welche im letzten Jahrzehnt in der kunsthistorischen Universitätsausbildung sichtbar wurden, und so haben sich seit 2005 die Zahlen der Studierenden, die mittlerweile aus 5 Kontinenten nach Göttweig kommen, vervielfacht. (ABB) So lehren zurzeit in unserer internationalen Faculty etwa 100 Professoren und Fachwissenschaftler, mit denen flexibel Neuerungen eingeführt werden können.

Lassen Sie mich unsere Arbeit noch einmal in den größeren Zusammenhang derzeitiger Wissenschaftsentwicklung rücken: (ABB) Ging die jährlich weltweit neu entstehende analoge Information in den letzten 20 Jahren leicht zurück, so explodierte die digitale Information von 1993 bis 2007 auf das 2.500-Fache. Seither hat sich das Wachstum weiter beschleunigt, so dass die alljährlich neu entstehende digitale Information die Grenze von einer Billion Gigabytes überschritten haben dürfte und damit die analoge Neuinformation um das 50-fache übertrifft. Manche Institutionen unserer Gesellschaft verhalten sich jedoch weiterhin so, als sei das Verhältnis umgekehrt, als hätte die revolutionäre Entwicklung unserer Informationsgesellschaft und ihrer Kultur nicht stattgefunden. Digitale Artefakte werden bislang kaum dokumentiert und langzeitarchiviert.

Besonders drastisch sind die Folgen im Kultursektor: Mehrere Dekaden Gegenwartskultur stehen vor dem Totalverlust. Zwar sind öffentlich finanzierte Archive, Museen und Lehreinrichtungen eigentlich verpflichtet, die Kunst unserer Zeit zu sammeln und zu vermitteln. Doch durch die kürzere Lebensdauer digitaler Speichermedien wurden die Archivsysteme unserer Gesellschaft kalt erwischt: Methoden der Langzeiterhaltung, wie Emulation und Recreation, stecken noch in den Kinderschuhen und eine konzertierte, vernetzte Sammlungspolitik, die unser föderales Museumssystem für die Klassische Moderne oder die Nachkriegskunst so vorbildlich umsetzte, ist für die elektronische Kunst nicht einmal angedacht. Zudem fehlen die Mittel: Obwohl der Handlungsbedarf hier eindeutig dringender ist, bewegen sich die Mittel zum Erhalt elektronischer Kunstformen immer noch im Promillebereich dessen, was der Denkmalpflege zur Verfügung steht. Damit können nicht einmal die drei bis sechs Prozent der Kunstwerke erhalten werden, die von der Kunst früherer Jahrhunderte üblicherweise überdauert haben, also nicht einmal die wichtigsten Werke weltweit ausgestellter Künstler. Wenn wir jetzt nichts tun, verlieren wir die gesamte elektronische Kunst und Digitale Kultur der Gegenwart – eine Tabula rasa, die durchaus mit jener der Bilderstürme und Kriegsverluste der Geschichte vergleichbar ist.

Was jetzt getan werden muss

(ABB) Inspiriert durch Darwins „The Expression of the Emotions“ begann Aby Warburg seinen berühmten, Fragment gebliebenen „Mnemosyne-Atlas“, dessen Bildercluster unabhängig vom etablierten Kunstkanon seiner Zeit (!) zusammengesetzt war und eine Vielzahl verschiedener Medien einschloss. Kunst- und Bildgeschichte entwickelte sich zur medienübergreifenden Suche nach Vergleichsbrücken, worin Warburg unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs seine wissenschaftliche Verantwortung erkannte. Nachdem seit Beginn des letzten Jahrhunderts Museen auch Fotografie sammeln und bereits in den 30er Jahren im New Yorker Museum of Modern Art eine große Filmsammlung entstand, sollten wir heute eigentlich das Entstehen virtueller Museen erleben. Diese Schlüsselentwicklung für die Digital Humanities ist bislang jedoch ausgeblieben.

(ABB) Blicken wir daher für einen Moment über die Grenzen der Geisteswissenschaften hinweg: In den Lebens- und Naturwissenschaften konnten in den letzten Jahrzehnten durch Vernetzung und Visualisierung zuvor unerreichbare Fragen erforscht werden: So erschließt das Virtual Observatory Astronomen den Kosmos über ein weltweites Netz dutzender Planetarien. Alle angeschlossenen Observatorien greifen auf das gleiche Bildmaterial zu, dessen Erstellung die beteiligten Staaten gemeinsam finanziert haben. In der Klimaforschung kalkuliert das Millenium Ecosystem Assessment die Erderwärmung und ökologische Veränderungen im globalen Maßstab, und der Erfolg des Human Genome Project ist bereits legendär – tatsächlich war man überrascht, wie schnell die kollektiven Arbeitsstrukturen bei der Entschlüsselung des Genoms wirkten.

(ABBlau) Auch in den Geisteswissenschaften könnten durch digitale Medien und vernetzte Forschung bislang undurchführbare Vorhaben machbar werden, wie eben die Dokumentation und Erhaltung von Medienkunst oder – eine Spur utopischer –eine Gesamtgeschichte der visuellen Medien und ihrer menschlichen Wahrnehmung anhand Tausender von Bildquellen, Videos und 3D-Simulationen – eine Enzyklopädie der Visuellen Kulturen. Angesichts der Bildrevolution und ihrer sich immer rascher entwickelnden Suggestionseffekte wie 3D, Animation und Virtualität, ist dies eine Schlüsselfrage unserer Zeit. Um den Geisteswissenschaften nachhaltigen Fortschritt zu ermöglichen, ist es notwendig, die neuen Technologien umfassend einzusetzen. Die Devise lautet: die tradierte Individualforschung nicht aufgeben, aber sie durch kollektive, netzbasierte Arbeitsformen unterstützen. Nur so lässt sich kritische Analyse auf eine zeitgemäße, breitere Basis stellen und stärken.

Tritt man einen Schritt zurück und betrachtet die letzten 15 Jahre Medienkunstforschung aus der Distanz, so wird klar: Bei allem, was erreicht worden ist – wir benötigen eine Konzentration der Kräfte. Im Feld der Dokumentation ist es essentiell, die Forschungsarbeit der wichtigsten ausgelaufenen und noch existierenden Projekte unter das Dach einer internationalen Institution wie der Library of Congress oder einem Verbund von Nationalbibliotheken zu stellen, welche die dauerhafte Existenz der Artefakte sicherstellen. Auch die Europeana – die zwar große, doch unterfinanzierte Idee europäischer Vernetzung digitaler Sammlungsdokumentationen – bleibt mittelfristig sinnlos, wenn ihre Basis, die einzelnen Archive, nicht fortgeführt werden. Neben der Absicherung wäre zudem die Einrichtung einer leistungsfähigen Spitzenforschungsinstitution sinnvoll, welche die besten Köpfe des Feldes zusammenführt.

Für eine nachhaltige Medienkunstforschung

(ABB) Wir brauchen eine zeitgemäße internationale und nachhaltige Sammlungs- und Forschungsförderpolitik, ähnlich derjenigen, welche die Erfolge der Naturwissenschaften ermöglicht hat. Eine von uns für dieses Ziel jüngst initiierte Deklaration wurde mittlerweile von mehreren Hundert hochrangigen Wissenschaftlern, Künstlern und Museumsdirektoren aus bislang 40 Ländern unterzeichnet (www.mediaarthistory.org) und ich möchte Sie herzlich einladen, gleichfalls online zu unterzeichnen. Um genug Momentum und die notwendige Nachhaltigkeit zu schaffen, müssen Förderer wie National Science Foundation, FWF, Deutsche Forschungsgemeinschaft, Volkswagen-Stiftung und EU nachhaltig internationalen Strukturen sichern, die unter anderem durch vier Weltkonferenzen zur Medienkunstgeschichte ausgebaut wurden. Erst wenn wir systematisch und konzertiert Sammlungs-, Erhaltungs- und Erforschungsstrategien entwickeln, können die Geisteswissenschaften der Aufgabe gerecht werden, mit der sie im Zeitalter der digitalen Kultur konfrontiert sind.

(ABBl) Lassen Sie mich abschließend sagen, dass ich die Zukunft interdisziplinärer Bildwissenschaft auf einem offenen Feld sehe, das sich gleichermaßen dem widmet, was zwischen den Bildern liegt und im Zusammenspiel mit Neurowissenschaften, Psychologie, Emotionsforschung, Philosophie und anderen Wissenschaften stets neu erschlossen werden muss. Bildwissenschaft will nicht den Reflexions- und Utopieraum Kunst verabschieden, den viele der genannten Werke so eindrucksvoll repräsentiert – im Gegenteil, innerhalb der erweiterten Grenzen wird die fundamentale Inspiration, wie sie von der Kunst für die Technik- und Mediengeschichte ausgegangen und mit Namen wie Leonardo, Pozzo, Barker, Daguerre, Eisenstein, und vielen Vertretern der jüngsten digitalen Gegenwart verbunden ist, besser deutlich. Ziel ist mithin eine aus der Vielzahl zeitgenössischer und historischer Visueller Kulturen schöpfende Bildwissenschaft, die sich mit neuen wissenschaftlichen Arbeitsinstrumenten stärkt und weiter international vernetzt.

(ABB) Vielleicht gelangen wir dann in Zukunft zu kollektiven bildwissenschaftlichen Arbeitsinstrumenten, wie sie der weltweit ausgestellte Künstler und Forscher Jeffrey Shaw visioniert. In seinem „T-Visionarium“ sind Bilder aller Formate, Videos und künftig 3D-Modelle in einem Panorama arrangierbar. Diese Installation – man denkt unweigerlich an den Bildatlas von Warburg – könnte zu einem neuartigen Forschungsinstrument für die Diskussion und visuelle Analyse von bis zu 1.000 Bildern weiterentwickelt werden…


[1] HELMHOLTZ 1903 (1871), S. 96.

[2] NEUE PREUßISCHE ZEITUNG – KREUZZEITUNG, v. 4.9.1883, Nr. 205, S. 1.